Der Glöckner von Notere Dame
Musical

Der Glöckner von Notre Dame Musical: Die Magie des Theaters

21. November 2018

Disneyfilme für die Musicalbühne zu adaptieren, sind eine erfolgsversprechende Sache. Der Zuschauer weiß schließlich, worauf er sich einlässt. Das Der Glöckner von Notre Dame Musical in Stuttgart überrascht, überwältigt und zeigt, welche Magie Theater haben kann.

Ich liebe Disneyfilme. Als Kind der 90er bin ich in der goldene Disney-Ära groß geworden, jenem Jahrzehnt, in denen der Entertainment-Gigant seine größten Meisterwerke geschaffen hat. Filme wie Arielle, Aladdin oder Die Schöne und das Biest sind – daran kann auch der Frozen-Hype nichts ändern – bis heute unerreicht. Auch deswegen überschwemmt uns der Konzern gerade wohl mit Realverfilmungen aus genau dieser Zeit: Auf Die Schöne und das Biest (2017) sollen in den folgenden Jahren Life-Action-Versionen von Aladdin, Mulan, Arielle und Der König der Löwen folgen. Das ist wenig einfallsreich, spricht aber für die Qualität dieser Filme.

Dass Disneyfilme auch auf der Musicalbühne funktionieren, haben ebenfalls vor allem die Bühnenadaptionen der 90er-Jahre-Filme bewiesen. Die Schöne und das Biest, Aladdin und Der König der Löwen sind durch ihren hohen Schauwert und die bekannten großen Disneysongs auch als Musicalversion erfolgreich. Denn ungeachtet ihrer Schwächen – und die haben bisher alle Disney-Musicalproduktionen gehabt– gibt es eines, was Disney kann, wie es nur Disney kann: Disney entfacht Magie. Magie entfacht auch das Der Glöckner von Notre Dame Musical in Stuttgart. Doch diese Art von Magie ist etwas anders als man sie von einem typischen Disneymusical erwartet.

Der Glöckner von Notre Dame Musical: Kein typischer Kinderfilm

Kommerziell war Der Glöckner von Notre Dame aus dem Jahr 1996 ein großer Erfolg. Weltweit spielte der Film 325 Millionen US-Dollar ein. 1997 erhielt er die für Disneyfilme schon selbstverständliche Nominierung in der Kategorie „Beste Filmmusik.“ Dennoch wird Disney’s Der Glöckner von Notre Dame selten in einem Atemzug mit Werken wie Der König der Löwen oder Die Schöne und das Biest genannt. Was vor allem daran liegt, dass er kein typischer Kinderfilm ist.

Notre Dame Fenster
Die Geschichte über Quasimode erschien 1831 unter dem Titel Notre Dame de Paris. | Foto: Stephanie Leblanc/Unsplash

Disney ist gut darin, bekannte Geschichten aufzugreifen und daraus neue Klassiker zu machen. Victor Hugos Roman aus dem Jahr 1831 liefert eine düstere Vorlage. Anders als die von Disney adaptierten Märchen gibt es hier keine hübsche Prinzessin, sondern mit dem buckligen, entstellten Quasimodo einen atypischen Protagonisten. Auch der Inhalt liest sich nicht wie die Zutatenliste für einen niedlichen Kinderfilm: Entführung, Mord, verhängnisvolle Leidenschaften und verbotene Begierde, Neid, Rassismus, Ausgrenzung, Folter – all das sind nicht die Themen, die für Disney’s primäre Zielgruppe geeignet sind.

Nicht nur bunte Oberfläche

Entsprechend veränderten die Filmemacher den Stoff so, dass er mit seiner Vorlage nicht mehr allzu viel zu tun hat. Das Regieduo Gary Trousdale und Kirk Wise strich diverse Figuren und idealisierten andere: Quasimodo ist weichherziger, Esmeralda deutlich temperamentvoller und selbstbewusster. Die Zigeuner werden zu Nebenhelden aufgewertet. Die nur in Quasimodos Fantasie lebendigen Wasserspeier sind die kindlichen Sidekicks.

Trotz dieser Verniedlichungen unterschiedet sich der Film von den üblichen Disney-Konventionen. Immer wieder schimmert das Dunkle durch die bunte Oberfläche. Frollo etwa ist nicht wie beispielsweise Gaston nur der verschmähte Verehrer. Er ist angetrieben von verbotener sexueller Begierde, die ihren Höhepunkt in der „Hellfire“-Sequenz findet. Auch das Thema Religion, eigentlich ein No-Go in der Disney-Welt, nimmt beim Glöckner zusammen mit Aspekten wie falsch verstandener Frömmigkeit, Nächstenliebe und religiösem Fanatismus eine zentrale Rolle ein.

Der Glöckner von Notre Dame Musical: Die Magie des Spiels

Die Musicaladaption des Glöckners löst sich noch weiter von dem trotz allen dunkleren Tönen farbenfrohen Film. Sie orientiert sich stärker an Hugos Roman, bleibt aber auf das Wesentliche reduziert. Ein großer Pluspunkt ist dabei die Inszenierung. Wo andere Disneymusicals bunt und glitzernd sind, hält sich der Glöckner zurück.

Notre Dame von innen
Das Bühnenbild fängt viel Atmosphäre der echten Notre Dame ein. | Foto: Gregory Hayes/Unsplash

Bereits vor der Show gibt der Theaterraum den Blick auf die Bühne frei – der Zuschauer sitzt nicht mehr in einem Theater, sondern in einer Kathedrale, deren andächtig-überwältigende Atmosphäre ihn in den Bann zieht, bevor der erste Ton überhaupt erklingt. Der größte Teil der Handlung spielt sich in dieser Kathedrale ab. Notre Dame ist das Herzstück. Nicht nur das des Bühnenbilds. Sondern auch das der Geschichte und ihrer Figuren. Das Der Glöckner von Notre Dame Musical überwältigt nicht mit Spezialeffekten oder opulenten Kostümen. Der Glöckner von Notre Dame überwältigt durch die Magie des Spiels.

Im Dienst der Geschichte

Um diese Magie zu entfachen, braucht es nicht viel, nur eine Bühne, ein Gerüst, ein paar wenige Kulissen und Requisiten, die intelligent den Szenen angepasst werden. Der Zauber steht im Dienst der Geschichte. Diese wird erzählt von einer Theatergruppe, deren Mitglieder sich in die verschiedenen Figuren verwandeln.

David Jakobs (in diesem Sommer auch als Enjolras in Les Misérables in Tecklenburg zu sehen) gelingt es, Quasimodo nicht nur auf den bemitleidenswerten Bückling zu reduzieren, sondern verleiht ihm ebenso Gutmütigkeit und Stärke. Durch Felix Martin bekommt Erzdiakon Claude Frollo eine ebenso beeindruckende wie bedrohliche Präsenz. Sein Frollo ist ein Getriebener der eigenen Frömmigkeit. Maximilian Mann als Phoebus bringt als Hauptmann, Frauenheld und Gegenteil von Quasimodo alles mit, was ihm zum Helden des Stückes machen könnte. Stattdessen ist er wie alle anderen ein Verlierer. Esmeralda sticht kostümtechnisch als einzige aus der gedeckten Masse heraus. Sie wird von Mercedesz Csampai verkörpert. Mit ebenso verführerischem wie mädchenhaften Charme verdreht sie gleich allen drei Männern den Kopf. Und Gavin Turnbull führt als Gaukler Clopin ein bis in die kleinsten Rollen hervorragend besetztes Ensemble an.

Ein Stück mit hochpolitischer Aussage

Die Geschichte bringt neben der bekannten Handlung Spannung, Witz und große Gefühle mit. Vor allem aber hat sie eine aktuelle, hochpolitische Aussage: Es geht um die Angst vor dem Fremden, um Bigotterie und Hetze gegen alles, was anders ist. Wenn Frollo beklagt, dass sich die Stadt durch die Aufnahme von Flüchtlingen so verändert habe, sind wir im hier und heute. Die Frage nach dem „Mensch oder Monster?“ verschwimmt. Der fromme Erzdiakon will Paris von den Zigeunern „befreien“. Die ausgestoßenen Zigeuner verspotten Quasimodo, weil er anders ist.

Das alles ist verpackt in die mitreißende Musik von Alan Menken und Stephen Schwartz. Wie in anderen Disneymusicals auch, überzeugen mich auch hier die neu komponierten Lieder nicht vollständig. Sie fügen sich insgesamt jedoch deutlich besser in das musikalische Gesamtwerkt als in anderen von Filmen adaptierte Stücke. Das liegt auch am Chor. Optisch zwar immer im Hintergrund, trägt er einen großen Teil dazu bei, die imposante Wirkung Notre Dames zu transportieren.

Der Glöckner von Notre Dame Musical: Eine Huldigung ans Theater

Das Der Glöckner von Notre Dame Musical ist von allen Trickfilmadaptionen für die Bühne die anspruchsvollste. Es ist kein klassisches Disneymusical, sondern hat die Trickfilmvorlage weiterentwickelt und eine andere Erzählart gewählt. Seine Magie entfaltet es vor allem durch seine Huldigung des Theaters. Der Zuschauer wird nicht nur unterhalten. Er verlässt Notre Dame, pardon, den Theatersaal, mit der Frage: „Was macht uns zu Monstern – und was nicht?“

Zugabe:

  • Das Der Glöckner von Notre Dame Musical erlebte 1999 seine Uraufführung im Theater am Potsdamer Platz in Berlin. Der letzte Vorhang fiel am 30. Juni 2002.
  • Drew Sarich (Quasimodo) und Norbert Lamla (Frollo) gehörten zur Premierenbesetzung
  • Die Neuauflage des Musicals mit verändertem Bühnenbild feierte ebenfalls in Berlin Premiere – am 9. April 2017 im Theater des Westens.
  • Im Anschluss machte das Stück in München und Hamburg Station.
  • Im Roman ist Esmeralda keine echte Zigeunerin. Die Tochter einer französischen Hure wird von Zigeunern entführt und gegen den verkrüppelten Quasimodo ausgetauscht.
  • Gar nicht heldenhaft: Als Esmeralda des Mordes und der Hexerei bezichtigt wird, steht Phoebus ihr nicht zur Seite, sondern kehrt zu seiner Verlobten zurück.
  • In Japan wurde der Titel des Films in „Die Glocken von Notre Dame“ umgeändert, weil das Wort „Hunchback“ (engl. für „Buckliger“) als diskriminierend körperlich Beeinträchtigten gegenüber gesehen wurde. Gleichzeitig wurde es auf die Tabuwortliste des japanischen Fernsehens gesetzt.
  • Für die VHS-Veröffentlichung in Australien wurden ungefähr zwei Minuten des Films herausgeschnitten, um die Altersfreigabe nach unten zu drücken. Gekürzt wurden Teile des Zusammentreffens von Frollo und Esmeralda in der Kathedrale und Passagen während des Songs Hellfire. Auch in der deutschen Synchro ist Esmeraldas Schrei während des Liedes nicht zu hören.