Mit Anastasia hat im November ein Zeichentrickfilm Musicalpremiere gefeiert, der nicht aus dem Hause Disney stammt. Die Probleme gleichen sich mit denen der Disneymusicals. Sehenswert ist das Anastasia Musical dennoch.
Wenn Zeichentrickfilme für die Bühne adaptiert werden, bin ich erstmal skeptisch. Das liegt nicht daran, dass Zeichentrickfilme nicht das Potenzial hätten, musikalisch wie handlungstechnisch ein richtig gutes Musical abzugeben. Das liegt daran, dass dieses Potenzial häufig nicht genutzt wird. Die meisten Musicaladaptionen von Zeichentrick- aka Disneyfilmen haben zwei Probleme:
- Änderungen an der Handlung sind selten ein Gewinn
- Die neu komponierten Lieder können selten mit der Qualität der Filmmusik mithalten.
Aladdin ist ein anschauliches Beispiel für dieses Problem. Die Idee, Aladdin anstelle des Affen Abu, der sich im Film ja noch in einen Elefanten verwandelt, die Freunde Babkak, Omar und Kassar zur Seite zu stellen, ist aus Fragen der Umsetzbarkeit nachvollziehbar. Der liebenswerte und unterhaltsame Sidekick des Protagonisten verkommt allerdings zu drei nichtssagenden Stereotypen, die eher albern als liebenswert sind. Abgesehen davon, dass ihre Gefängnisszene die Handlung strecken soll, erfüllen sie keine Funktion in der Geschichte.
Auch in puncto Musik sind sowohl bei Aladdin als auch bei vielen anderen Disneymusicals immer dann Abstriche zu machen, wenn Lieder nicht aus der Filmversion stammen, sondern für die Bühnenfassung neu dazu geschrieben wurden. Diese Probleme hat auch das Anastasia Musical in Stuttgart.
Anastasia Musical: Der Mythos um die Zarentochter
Mit „Anastasia“ fand 2017 ein Zeichentrickfilm auf die Bühne, der nicht aus dem Hause Disney stammt, jedoch nicht weniger Musicalpotenzial hat. Der Film aus dem Jahr 1997 bietet Action, Humor, eine verlorene Prinzessin, eine Liebesgeschichte und mit „Reise durch die Zeit“ oder „Es war einmal im Dezember“ wunderschöne Melodien, die dem Film auch musikalisch seinen ganz eigenen Charakter verleihen.
Auch thematisch nimmt er sich eines Stoffes an, der zum Träumen anregt und die Fantasie der Menschen schon seit nunmehr hundert Jahren beflügelt. Er erzählt den Mythos der russischen Zarentochter Anastasia. Als jüngste Tochter des letzten russischen Kaiserpaares, Nikolaus II. und Alexandra Fjodorowna wurde sie gemeinsam mit ihrer Familie im Zuge der Februarrevolution 1917 zunächst nach Tobolsk verbannt und später nach Jekaterinenburg verlegt, wo der Familie der Prozess gemacht werden sollte. Da Lenin seine Macht gefährdet sah und einen Prozess gegen die Zarenfamilie als zu riskant einstufte, beschloss er ihre Hinrichtung. In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 löschten die Bolschewiki die gesamte Zarenfamilie aus.
Doch nicht alle Familienmitglieder waren sofort tot. Der Zarewitsch Alexei und drei seiner Schwestern, unter ihnen Anastasia, lagen zunächst schwer verletzt am Boden. Da die Kugeln von ihnen abzuprallen schienen, erstachen die Schützen ihre Opfer mit dem Bajonett. Die Stichwaffen blieben jedoch in den Miedern der Mädchen stecken. Sie hatten den Familienschmuck darin eingenäht. Folglich dauerte es an die zwanzig Minuten, bis alle tot waren. Die Nacht ging als Blutnacht in die Geschichte ein. Ihr entsprang die Legende, dass Anastasia überlebt habe. Verschiedene Frauen gaben sich als die verschollene Großfürstin aus. Erst 2007 belegte ein DNA-Test, dass auch sie den Bolschewiki zum Opfer gefallen war.
Nicht alle Änderungen sind gelungen
Film und Musical lassen die historischen Fakten außer Acht und erzählen die Geschichte, wie sie sein könnte, wenn Anastasia überlebt hätte. Wie „Der Glöckner von Notre Dame“ ist das Anastasia Musical dabei nur an seine Filmvorlage angelehnt und keine Eins-zu-eins-Adaption des oscarnominierten Zeichentrickfilms.
Das Waisenkind Anja hat keinerlei Erinnerung an ihre Kindheit oder daran, wer sie ist. In Leningrad, von den zarentreuen Russen nach wie vor St. Petersburg genannt, schließt sie sich dem Gaunerduo Dimitri und Vlad an. Diese sind auf der Suche nach einer Anastasia-Doppelgängerin. Sie wollen die vermeindliche Zarentochter nach Paris bringen. Dort erhoffen sie sich von Anastasias Großmutter, der Fürstin Maria Feodorowna Romanowa, eine stattliche Belohnung. Da Frankreichs Hauptstadt der einzige Hinweis auf ihre Familie ist, lässt Anja sich auf den Schwindel ein und begibt sich auf die Reise nach Paris.
Politik statt Zauberei
Statt des bösen Zauberers Rasputin bekommt die Zarentochter im Anastasia Musical den Antagonisten Gleb gegenübergestellt. Er ist Mitarbeiter der russischen Regierung, sein Vater war am Mord der Zarenfamilie beteiligt. Er folgt Anja nach Paris, um zu Ende zu bringen, was sein Vater begonnen hat. Damit treffen zwei Ideologien aufeinander, die – der Mord an der Zarenfamilie hat es bereits gezeigt – nicht nebeneinander bestehen können. Das Stück wird dadurch politischer. Vor allem, wenn Gleb und Anja sich im Finale die Hand reichen, hat das einen hohen Symbolcharakter. Doch leider greift hier Kritikpunkt Nummer eins: Änderungen an der Handlung sind selten ein Gewinn sind. So ist es auch mit Gleb.
Die grundsätzliche Idee, die hinter der Einführung dieses Charakters steckt, ist durchaus gelungen. Es hapert an der Umsetzung. Denn Gleb ist ein schwacher Charakter, der immer mal wieder auftaucht, wenn man ihn eigentlich schon wieder vergessen hat. Er schafft es nicht, glaubhaft zu verkörpern, dass er eine Gefahr für die überlebende Zarentochter ist. Sein ideologischer Fanatismus wirkt aufgesetzt und seine Wandlung sowie die Tatsache, dass er selbstverständlich Gefühle für die schöne Anja entwickelt, wenig glaubhaft. Dramaturgisch wurde hier viel Potenzial verschenkt, ist es doch Gleb, der von allen Figuren die höchste Fallhöhe hat.
Zu wenig Figurenarbeit
Ähnlich verschenkt ist die Rolle des Dimitri. Im Film ist er ein Zyniker, der sich mit Anja einen Schlagabtausch nach dem anderen liefert. Im Musical ist er sehr viel weicher, was weniger an Darsteller Milan van Waardenburg, als am Buch liegt. Der Liebesgeschichte von Anja und Dimitri wird hier viel weniger Zeit zur Entwicklung gegeben. Wo im Film aus Ablehnung Zuneigung und letztlich Liebe erwächst, ist im Musical schon nach wenigen Szenen klar, dass beide sich unsterblich ineinander verliebt haben. Auch hier wird den Charakteren die Möglichkeit genommen, sich auf ihr voraussehbares Ende hinzuentwickeln. Ebenso fehlt der Witz der Filmversion.
Auch sonst greifen nicht alle inhaltlichen Änderungen, die teilweise vor allem durch den Wegfall Rasputins erforderlich sind. Die Zugfahrt beispielsweise – im Film eine sehr actionreiche Szene – ist im Anastasia Musical nicht mehr als eine nette Spazierfahrt, auf der ein bisschen geträllert wird. Zum Verlauf der Handlung trägt sie nichts bei. Die Schiffart von Deutschland nach Frankreich, auf der Anja und Dimitri sich erstmals näher kommen, wurde ganz gestrichen. Da Gleb es nicht schafft, eine ernstzunehmende Bedrohung darzustellen, bleibt die Handlung so recht spannungsarm.
Musical Anastasia: Viel Gerede, wenig Gesang
Auch auf musikalischer Ebene breitet sich das altbekannte Problem aus. Die Lieder aus dem Film funktionieren ganz hervorragend. Sie transportieren den Zauber des Vergangenen, der Anja wie eine mystische Aura umgibt, und sorgen für Gänsehaut. Die eigens für die Bühnenadaption geschriebenen Lieder tun das leider nicht. Während Rasputins Song „Im Dunklen der Nacht“ als „Mein Land“ („Stay, I Pray you“) erklingt und für einen berührenden Moment sorgen kann, kommen die meisten anderen Lieder sehr belanglos daher. Abgesehen vom immer wiederkehrenden „Es war einmal im Dezember“-Thema, haben die anderen Figuren musikalisch keinen Charakter. Das ist schade bei Dimitri und der Großfürstin, fällt bei Gleb als Antagonisten aber besonders stark ins Gewicht. Eine Ausnahme sind hier die wirklich schönen Lieder „Land, das einmal war“ („Land of Yesterday“) und „Im Traum“ („In My Dreams“). Sie zeigen, was für Möglichkeiten das Musical musikalisch gehabt hätte.
Davon abgesehen krankt die musikalische Ausarbeitung des Stückes an einem Phänomen, das in vielen neueren Musicals zu beobachten ist. Die Anzahl der Lieder ist überschaubar, der Anteil an Dialogen viel höher als der gesungene Text. Wie schön wäre es, endlich mal wieder ein komplett durchkomponiertes Stück zu sehen, wie es Les Misérables, Das Phantom der Oper oder Elisabeth sind. Stattdessen kommen Musicals heutzutage mit gerade einmal 20 Liedern aus. Bei Les Mis finden sich so viele Songs allein im ersten Akt. Warum nicht auch bei Anastasia? Muss die erste Szene des Stücks mit einem Dialog beginnen? Warum wird der Prolog lediglich musikalisch untermalt (zumal der Filmprolog eines der musikalischen Höhepunkte des Filmes ist)? Konnte man Anja und ihrer Großmutter für ihr Wiedersehen nicht ein Lied schreiben? Warum müssen Anja und Gleb sich bei ihrer finalen Konfrontation tot quatschen, statt ein starkes Duett singen zu dürfen? Mit Musical hat das wenig zu tun.
Opulente Optik
Dadurch kann das Stück musikalisch leider nur selten die gleiche Wucht entfalten wie optisch. Große Theatermomente gibt es dennoch reichlich, etwa, wenn Anja die Spieluhr öffnet und sich deren Figuren zeitgleich mit ihrer Familie zu „Im Dezember vor Jahren“ drehen (wieder einmal eine sinnlose Textänderung), oder wenn die Bolschewiki den Winterpalast stürmen. Überhaupt setzt Anastasia in Sachen Optik und Ausstattung völlig neue Maßstäbe. Herzstück der Bühne ist eine LED-Wand, die für ebenso überzeugende wie atemberaubende optische Täuschungen sorgt. Wirbelnde Schneeflocken, blühende Kirschbäume, deckenhohe Aktenschränke – sie alle verschmelzen zu einer untrennbaren Einheit mit dem echten Bühnenaufbau, einer dreiteiligen Wandfront mit drehbaren Außenteilen.
Die restlichen Requisiten fallen dürftig aus, die Opulenz entfaltet sich allein durch die Projektionen und die Kostüme, die einen hohen Schauwert besitzen. Die zahlreichen Swarovskisteine erfüllen ihren Dienst. Die Kleider der russischen Zarenfamilie funkeln wie Schneekristalle und Anastasias rotes Ballkleid, das einen Wert von über 10.000 Euro haben soll, ist wirklich das, was man eine Traumrobe nennen kann. Mein Lieblingskleid ist das der Zarin Alexandra, an dem ich mich einfach nicht satt sehen konnte.
Eine starke Hauptdarstellerin
Unabhängig von dem ganzen Drumherum steht und fällt die Qualität einer Aufführung immer mit ihren Darstellern. Als Anja agiert Judith Caspari mit heller, schöner Stimme, die auch in hohen Lagen nicht ihre Leichtigkeit verliert. Ihre Anja ist stark und verletzlich, natürlich und energisch, vor allem aber ungeheuer charismatisch. Die junge Darstellerin schafft es, das Stück zu tragen, der Zuschauer folgt ihr gern auf ihrer Reise durch die Zeit. Das Zusammenspiel mit ihrem Dimitri Milan van Waardenburg ist harmonisch, allerdings bleibt er aus besagten Gründen, einmal mehr in den Szenen mit ihr, blass.
Thorsten Tinney als Vlad ist der witzige und warmherzige Ruhepol des Dreiergespanns. Sein komödiantisches Talent darf er vollends ausspielen, wenn er auf seine Geliebte Lilly (Jaqueline Braun) trifft. Und ja, die Szene im Park ist witzig. Allerdings wird die Komik hier doch sehr überstrapaziert, zumal die Szene, eigentlich ja nicht mehr als ein Füller, unverhältnismäßig lang ausfällt. Es wäre schön gewesen, wenn stattdessen Szenen, die für die Entwicklung von Handlung und Figuren wichtiger sind, detaillierter ausgearbeitet worden wären.
Mathias Edenborn gehört mittlerweile zur Standardbesetzung nahezu jeder Stage Entertainment-Produktion. Ich kann das nicht nachvollziehen und empfand ihn beispielsweise als Phantom sowohl im ersten Teil als auch in Liebe stirbt nie als komplette Fehlbesetzung. Als Gleb versucht er aus der Rolle rauszuholen, was das schwache Buch zulässt. Dass er mich auch dieses Mal nicht überzeugen kann, liegt sicher nicht allein an seinem ambitionierten Spiel.
Die Rolle der Zarenmutter hat Daniela Ziegler übernommen. Sie überzeugt auf schauspielerischer Ebene, hat aber gesanglich wenig zu tun, da man ja auf eine musikalische Ausarbeitung ihres Charakters verzichtet hat. Aus diesem Grund hat sie mich trotz ihres intensiven Spiels nur selten berührt.
Nicht kaiserlich, aber gut
Wie ist Anastasia nun einzuordnen? Sehenswert ist das Stück allemal. Trotz aller Kritikpunkte schafft es unvergessliche Theatermomente. Ebenfalls lobenswert ist, dass Stage Entertainment endlich mal etwas Neues auf die Bühne gebracht hat. Dass das direkt als Anlass genommen wird, die Kartenpreise ins Astronomische steigen zu lassen, ist nicht überraschend, deswegen aber nicht weniger ärgerlich. Als ich hörte, dass Anastasia, einer meiner absoluten Lieblingsfilme, den ich so häufig gesehen habe, wie keinen anderen Film, auf die Bühne kommt, war für mich sofort klar, dass ich dieses Stück sehen muss. Als ich die Kartenpreise sah, habe ich dann doch erstmal gezögert. Ja, ich habe letztlich doch gebucht, aber ich bin doch ein bisschen im Zwiespalt, ob ich solche Wucherpreise noch unterstützen möchte. Bei allem Verständnis für die Kosten einer solchen Produktion: Für diese Kartenpreise kann man einen Kurzurlaub machen.
Ich bereue nicht, dass ich so viel Geld bezahlt habe. Doch ein wenig enttäuscht war ich schon. Angesichts der Möglichkeiten, die Anastasia hat, ein wirklich großes Musical zu sein, ist es schade, dass man diese nicht genutzt hat. So ist das Anastasia Musical eben kein großes, aber dennoch ein gutes Musical. Es sorgt für Abwechslung auf den deutschen Bühnen und ist schön anzuschauen. Der Großfürstin Anastasia wäre aber noch ein wenig mehr vergönnt gewesen.
Zugabe
- Das Anastasia Musical hat sechs Lieder aus dem Zeichentrickfilm übernommen, darunter das oscarnominierte „Journey to the Past („Reise durch die Zeit“) und das für einen Golden Globe nominierte „Once upon a December“ („Es war einmal im Dezember“). Zusätzlich wurden 16 neue Stücke geschrieben.
- Anders als im Film gehört Dimitri im Anastasia Musical nicht zu den ehemaligen Bediensteten der Zarenfamilie. Stattdessen sind er und Anastasia sich als Kinder einmal bei einer Parade begegnet.
- Sophie Stanislavovna Somorkov-Smirnoff heißt im Musical Lily Malevsky-Malevitch
- In der deutschen Filmfassung singt Jana Werner Anjas Part