Chicago Musical
Musical

Musical Chicago in Köln: Jazztime

20. Juni 2019

Das erfolgreiche Broadway-Musical „Chicago“ ist auf Deutschlandtour. Die englischsprachige Inszenierung gastiert unter anderem auch im Musical Dome Köln – und begeistert.

Welcome. Ladies and Gentlemen, you are about to see a story of murder, greed, corruption, violence, exploitation, adultery, and treachery – all those things we all hold near and dear to our hearts. Thank you.“ Mit diesen Worten eröffnet das Musical Chicago seine Reise in die gleichnamige amerikanische Gangsterstadt der 1920er Jahre – opulent, verrucht, witzig, selbstironisch und mit jeder Menge Jazz. Nach Miss Saigon, das im Frühjahr ebenfalls in englischer Sprache in Köln zu sehen war, geht mit Chicago ein weiteres hochkarätiges Musical auf Deutschlandtour.

Dabei ist immer wieder zu lesen, dass Chicago ein Musical über Liebe, Verrat und Betrug ist. Falsch ist das nicht. Aber so ganz gerecht wird diese Beschreibung dem Stück auch nicht. Denn das Publikum bekommt hier nicht die große Lovestory zu sehen. Chicago führt Gefühle wie die Suche nach Liebe und Aufmerksamkeit ins Absurde, zeigt, wie weit Menschen gehen, um berühmt zu werden und wie schnell sie vergessen, was im Leben zählt. Moral bedeutet hier nichts. Weißt du dich zu vermarkten, das zeigt Chicago voll Ironie und schwarzem Humor, kommt du sogar mit einem Doppelmord davon.

Chicago begeistert bereits seit 22 Jahren

Chicago ist nach Das Phantom der Oper das am längsten laufende Musical am Broadway. Bereits seit 22 Jahren begeistert es das Publikum am Big Apple. Bis heute haben 31 Millionen Zuschauer das Stück in 30.000 Vorstellungen weltweit gesehen, 2002 folgte die Verfilmung mit Renee Zellweger, Catherine Zeta-Jones und Richard Gere in den Hauptrollen. Die intelligent-mitreißende Inszenierung dürfte trotz ausbaufähigen gesanglichen Leistungen den Grundstein für den Boom an Musicalverfilmungen während des vergangenen Jahrzehnts gelegt haben.

Dieser Erfolg war bei der Premiere 1975 nicht abzusehen. Die Originalinszenierung von John Kander (Musik), Fred Ebb (Text) und Bob Fosse (Buch und Choreografie) wurde zwei Jahre später nach 936 Vorstellungen abgesetzt. Erst 1996 gab es eine Revival-Produktion, die von New York über London auch nach Wien und letztlich nach Düsseldorf gelangte. Zuletzt war das Musical Chicago 2018 bei den Schlossfestspielen in Ettlingen zusehen.

20s-Feeling und aktueller Zeitgeist

Chicago Musical im Musical Dome
Foto: Weber

Die Story von Chicago ist durch und durch amerikanisch: Als ihr Liebhaber Fred Caseley sie verlassen will, zieht die Vaudeville-Tänzerin Roxie Hart kurzerhand die Waffe und legt ihn um. Im Knast trifft sie auf Velma Kelly, die durch den Doppelmord an ihrem Ehemann und ihrer Schwester sowie mit Hilfe der korrupten Mama Morton und dem Anwalt Billy Flynn zum Medienstar geworden ist. Roxie lernt den Mord an ihren Lover ebenfalls für den eigenen Ruhm zu nutzen und so entspinnt sich eine unterhaltsame Geschichte, die vor allem davon lebt, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen. Das Musical zeichnet mit viel Witz und Ironie ein Sittengemälde der 20er Jahre und ist dabei ungemein aktuell.

Wie Roxie nach medialer Aufmerksamkeit giert und ihr Bild um jeden Preis in den Zeitungen – dem in den 20er Jahren boomenden Medium – sehen will, unterschiedet sich nicht von jener Sucht nach Anerkennung, nach der die Menschen heute in sozialen Netzwerken streben. Die Mediengeilheit ist unverändert, ebenso das Streben nach Ruhm. Lediglich das Medium hat sich verändert. Unverändert sind auch die Manipulierbarkeit und Sensationslust der Medien. Chicago zeigt: Trotz all dem Fortschritt sind manche Dinge noch immer wie in den 20ern. Umso wirkungsvoller, wenn Mama Morton und Velma Kelly im zweiten Akt zu ihrem herrlich theatralisch-verzweifelten „Nobody’s got no class“ ansetzen.

Reduziert und gleichzeitig opulent

Das Musical punktet auch, weil es entgegen der heutigen, musicaltypischen Sehgewohnheiten agiert. Anstelle eines opulenten Bühnenbildes oder ausgefeilter Technik und visuellen Effekten ist Chicago schlicht und reduziert: Das Orchester sitzt mit auf der Bühne, außer einer Treppe, ein paar Stühlen und einer Leiter am rechten und linken Bühnenrand gibt es nichts zu sehen. Auch die Kostüme sind schlicht und schwarz, inspiriert von den 20ern und doch zurückgenommen. Und dennoch kann das Musical Chicago optisch voll und ganz überzeugen. Denn das, was Handlung und Musik zu einer Einheit verschmelzen lässt, ist der Tanz.

Die von Ann Reinking überarbeitete Choreografie ihres Mentors Bob Fosse ist bis auf die kleinste Geste perfekt ausgearbeitet. In ihr verbindet sich das klassische Ballett mit dem Modern Dance, Stepptanz trifft auf Burlesque. Daraus formt sich Fosses ganz eigener Stil mit wiegenden Hüften, gespreizten Fingern und Schulterrollen. Das ist ästhetisch, sinnlich, auf den Punkt getimt und macht einfach nur Freude anzusehen. Und mal im Ernst: Wann hast du zuletzt ein Musical mit einem so hohen Tanzanteil gesehen?

Überzeugende Besetzung

Überzeugend ist auch die Besetzung. Carmen Pretorius in der Rolle der Roxie gibt das naive Blondchen und kokettiert immer wieder mit ihrem eigenen Image. Ihre Nummer „Roxie“ ist eines der absoluten Höhepunkte des Abends. Einen weiteren liefert sie sich im Duett mit Craig Urbani als Billy Flynn in „We Both Reached for the Gun“. So viel Spielwitz, Timing und Humor – großartig.

Urbani ist die Verkörperung des Staranwalts schlechthin: galant wie selbstverliebt würde er den perfekten amerikanischen Late-Night-Talker abgeben. Samantha Poe als Velma Kelly ist nicht nur cool, sondern auch richtig bitchy, was sie mit einer dreckigen Stimmfärbung immer wieder zum Ausdruck bringt. Das mag am Anfang etwas gewöhnungsbedürftig sein, passt aber zu ihrer Rolleninterpretation. Velma ist nun mal ein Biest. Stimmgewaltig zieht Ilse Klink als Mama Morton das Publikum in ihren Bann. Und Grant Towers singt sich als Roxies Mann Amos Hart und liebenswerter Loser in die Herzen der Zuschauer. Zwar bekommen Roxie und Velma, so viel sei vorweggenommen, am Ende ihren Ruhm. Vielleicht ist es aber tatsächlich Amos, der als einziger ein wirkliches Happy End findet, weil nur er sich aus diesem Karussell aus Ruhmessucht, Lügen und Verrat befreien kann.

Zugabe:

  • Das Musical sowie seine Verfilmung hat jede Meng Preise eingesackt: sechs Tony Awards (1997), zwei Olivier Awards (1998), einem Grammy (1998) und sechs Oscars (2003).
  • Choreograf Bob Fosse war Tänzer in zahlreichen Burlesque-Shows.
  • Die englischsprachige Tourneeproduktion ist bis August noch in Frankfurt, Düsseldorf, Berlin, München und Linz zu sehen.
  • Ute Lemper wurde durch die Rolle der Velma Kelly berühmt. Inzwischen waren auch Musicalgrößen wie Pia Douwes oder Anna Montanaro in englischsprachigen Aufführen zu sehen.