Mit dem Musical „Big Fish“ entführt das Musiktheater in Gelsenkirchen sein Publikum in eine farbenreiche Fantasiewelt voller Hexen, Riesen und Nixen. Es ist vor allem die bunte Bilderwelt, mit der das Stück über eine konfliktvolle Vater-Sohn-Geschichte überzeugen kann.
Wenn man sich die Spielpläne der Stadttheater ansieht, so finden sich darin Jahr für Jahr die üblichen Verdächtigen. West Side Story gehört zum Standardprogramm deutscher Stadttheater. Ebenso Andrew Llyoyd Webbers Jesus Christ Superstar oder der Musicalklassiker Cabaret. Auch wenn viele Stadttheaterproduktionen inzwischen eine bemerkenswerte Qualität erreicht haben, die längst mit der ein oder anderen Großproduktion mithalten kann, wird doch viel Einheitsbrei geboten. Klar, Klassiker sind bewährt und stellen kein Risiko dar. Ein neues, vielleicht bis dato sogar unbekanntes Stück auf die Bühne zu bringen, ist immer auch ein finanzielles Wagnis. Dass sich ein solches Wagnis lohnt, beweist das Big Fish Musical im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen.
Das Big Fish Musical erzählt fantastische Geschichten
Die Handlung dreht sich um den Handelsvertreter Edward Bloom aus Montgomery, Alabama. Dieser liebt es, seinem Sohn fantastische Geschichten über Fabelwesen, den Zirkus und den Krieg zu erzählen. Sie alle, so behauptet er, habe er selbst erlebt. Als sein Sohn Will erwachsen ist, erzählt sein Vater noch immer diese Geschichten, was letztlich zum Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn führt. Erst als Will und seine schwangere Frau Josephine von Edwards unheilbarer Krebserkrankung erfahren und nach Montgomery zurückkehren, versteht Will nach und nach die Wahrheit hinter den Geschichten seines Vaters.
Vorlage für das Musical ist der gleichnamige Roman von Daniel Wallace sowie die Verfilmung von Tim Burton aus dem Jahr 2003. Andrew Lippa (Texte und Musik), der unter anderem Musicals wie The Wild Party und The Addams Family schrieb, und John August (Buch) adaptierten ihn 2013 für den Broadway. Drei Jahre später präsentierten die Studierenden der Bayerischen Theaterakademie August Everding die europäische Erstaufführung. Im Musiktheater Gelsenkirchen ist Big Fish bis zum 29. Juni 2019 zu sehen.
Emotionale Vater-Sohn-Geschichte
Intelligent ist die Erzählweise des Stücks. Die emotionale Vater-Sohn-Geschichte spielt auf zwei Erzählebenen, Realität und Fiktion, und läuft zudem auf zwei Zeitschienen, Gegenwart und Vergangenheit, denen der Zuschauer problemlos folgen kann. Zentrum und Ausgangspunkt jeder Szene ist die Silhouette des Bloomschen Wohnhauses. Sie verdeutlicht: Egal, wie fantastisch Edward Blooms Geschichten auch sind, es geht einzig und allein um die Familie.
Requisiten gibt es nur wenige. Überwiegend kommen verschiedenfach verwendbare Holzkisten zum Einsatz. Sie verdeutlichen vor allem auf der Fantasieebene: Das ist die Welt, die Edward Bloom baut. Die Magie der Show entfaltet sich durch den Einsatz farbenreicher, stimmungsvoller Projektionen, die mit den ebenso bunten wie detailverliebten Kostümen zu einer Einheit verschmelzen. Wie in einer kunterbunten Märchenwelt fühlt sich der Zuschauer in Momenten, in denen Riesen und Nixen die Bühne betreten oder er in die schillernde Zirkuswelt (mit einer bemerkenswerten Akrobatin!) eingesogen wird. Das macht alles so viel her, dass man selbst an die Märchen des Edward Bloom glauben möchte.
Musikalisch austauschbar, tänzerisch fulminant
Den Zauber, der sich optisch auf der Bühne des Musiktheaters entfaltet, entfaltet sich musikalisch leider nicht. Die Songs (Musikalische Leitung: Heribert Feckler) reihen sich ein in die Riege eher austauschbaren Musical-Standards und klingen ebenso gefällig wie vorhersehbar. Sie schaffen es leider nicht, dem Stück einen musikalischen Wiedererkennungswert zu verleihen.
Was auf musikalischer Eben fehlt, machen die Tanzeinlagen wett. Getanzt wird viel und fulminant und wie in guter alter Musicaltheatermanier dürfen die Darsteller steppen, was das Zeug hält.
Überzeugende Darsteller
Das Ensemble setzt sich aus hauseigenen Darstellern wie Anke Sieloff, Jenny Hill und Oliver Aigner sowie Gastdarstellern wie Theresa Chistahl und Benjamin Oeser zusammen. Christahl und Oeser standen schon als Studierende in München als Ehepaar Sandra und Edward Bloom auf der Bühne. Sie meistern das ständige Hin und Her zwischen jugendlichem Optimismus und gebeugtem Alter mühelos. Abgesehen davon fiel es mir jedoch schwer, den Protagonisten richtig sympathisch zu finden. Trotz all seiner fabelhaften Geschichten tritt er in jeder Geschichte als gnadenloser Selbstdarsteller auf, der dann am Ende auch als der große Held dastehen darf. Ihn auf einen etwas weniger hohen Thron zu setzen und den Vater auch ohne seine große Rettungstat als Held zu sehen, hätte genau so gut funktioniert. Vielleicht wäre das auch eine noch größere Erkenntnis für den werdenden Vater Will gewesen. Das ist allerdings dem Buch und nicht Oesers Darstellung geschuldet. Er gibt auf der Bühne alles und kann darstellerisch und gesanglich überzeugen.
Dennis Hupka als nüchterner Will bleibt dagegen ein wenig blass. Sina Jacka als seine Frau Josephine lenkt immer wieder ein und versucht, ihren Mann zum Umdenken zu bewegen. Anke Sieloff agiert als weissagende Hexe und Edwards Jugendliebe Jenny Hill in einer Doppelrolle – die Tatsache, dass Jenny bis ins hohe Alter auf Edward gewartet hat, ist für meinen Geschmack erneut etwas dick aufgetragen. Die Szene mit der Hexe im Wald hat dafür umso mehr Atmosphäre. Die Lieblinge der Show dürften aber Oliver Aigner als beeindruckender Riese Karl sowie Rüdiger Frank als kleinwüchsiger Zirkusdirektor und Werwolf Amos sein.
Das Big Fish Musical ist einen Besuch wert
Insgesamt ist das Musical Big Fish in Gelsenkirchen eine wirklich gelungene Produktion. Sie erfindet und visualisiert ein gängiges Thema völlig neu . Auch wenn die Musik eher belanglos nebenher läuft, gelingt es dem Stück zu berühren, in Staunen zu versetzen und auch ein wenig nachdenklich zu stimmen. Vor allem aber zeigt es, dass es sich lohnt, auch als Erwachsener noch an die Kraft und Magie der Fantasie zu glauben. Und das allein ist schon einen Besuch wert.
Zugabe:
- Das Stück erlebte seine Broadwaypremiere am 5. September 2013.
- Nach 34 Previews und 98 regulären Vorstellungen hob sich am 29. Dezember 2013 der letzte Vorhang im Neil Simon Theatre.
- Auch in London und Australien war das Stück bereits zu sehen.
- Im Musical sind die Hexe und Jenny Hill zwei unterschiedliche Charaktere. In Tim Burtons Filmversion sind beide Aspekte eines Charakters.