Das Jahr neigt sich dem Ende entgegen und so nach und nach wird enthüllt, auf welche Musicalproduktionen wir uns im kommenden Jahr freuen können. Viel Neues ist dabei, aber auch wenig Originelles.
Muscials 2019: Die Rede ist natürlich nicht vom hundertsten Standortwechsel der Vampire oder sonstigen Umzügen aus dem gängigen Stage Entertainment-Repertoire. Es geht um Neuproduktionen, von denen der Musicalproduzent fürs kommende Jahr einige in Aussicht gestellt hat. Trotz vieler Premieren sind diese allerdings eher wenig originell. Hier ein Ausblick auf die Musicals 2019.
Amélie: Reise in die Traumwelt
Basierend auf dem gleichnamigen Film von Jean-Pierre Jeunet und Guillaume Laurant hebt sich am Valentinstag 2019 im WERK7 Theater in Münchens Werksviertel der Vorhang für Die fabelhafte Welt der Amélie. Der Film von 2001 mit Hauptdarstellerin Audrey Tautou spielte weltweit mehr als 180 Millionen US Dollar ein. Er war für fünf Oscars nominiert und gewann den Europäischen Filmpreis sowie den französischen César.
Film wie Musical erzählen die Geschichte der Amélie Poulain. Die junge Französin flieht aus ihrem tristen Alltag in eine skurille, eben fabelhafte Traumwelt voller Poesie und Fantasie. Buch und Texte der Bühnenadaption stammen von Craig Lucas und Nathan Tysen, die Musik schrieb Daniel Messé. Auch die bekannte Filmmusik von Yann Tiersen wird im Stück zu hören sein. Die Titelrolle übernimmt die 22jährige Sandra Leitner. Sie war bereits in der Musicalversion von Fack Ju Göthe in der Rolle der Laura zu sehen.
Am New Yorker lief das Musical 2017. Dort wurde Amélie bereits nach 56 regulären Shows abgesetzt.
Tina: Aufstieg eines Weltstars
Das Tina Turner-Musical erzählt das Leben der amerikanischen Sängerin von ihren Anfängen als junges Mädchen über ihren Lebensabschnitt mit dem Soulmusiker und späteren Ehemann Ike Turner bis hin zu ihrem weltweiten Erfolg als Pop-Solokünstlerin seit den 80er Jahren. Das Musical hat Stage Entertainment in enger Zusammenarbeit mit der Sängerin entwickelt. Es hat im März im Operettenhaus Hamburg Premiere.
Die gebürtige Amerikanerin Kristina Love übernimmt die Titelrolle. Sie lebt seit vielen Jahren in Deutschland und stand schon in Produktionen wie Rocky, Sister Act und Aladdin auf der Bühne.
The Band: Take That is back
Back to the 90s, genauer gesagt ins Jahr 1992. Die Freundinnen Rachel, Heather, Debbie, Claire und Zoe sind im Boyband-Fieber. Die „Band“ ist ihr Leben. Als sie sich 25 Jahre später wieder treffen, hat sich vieles verändert. Zum Soundtrack von Take That, der erfolgreichsten Band Großbritanniens, werden Erinnerungen und vergessene Jugendträume wieder wach. Das Musical mit den Hits der hysterisch gefeierten Boyband, deren Trennung damals das große Drama tausender pubertierender Mädchen war, kommt im April 2019 erstmals nach Deutschland und wird im Theater des Westens in Berlin Premiere feiern. Buch und Dialoge sind auf deutsch, die Songs bleiben im englischen Original. Take That sind Co-Produzenten der Show.
Paramour: Artistik trifft Musical
„Musical und Artistik – zwei Künste vereint zu einem ganz neuen Show-Erlebnis“ – das verspricht Stage Entertainment mit der neuen Show Paramour, die ab April 2019 in der Neuen Flora Hamburg zu sehen sein wird. Das Broadway-Musical löst das Disney-Musical Aladdin ab und soll mehr Zirkusshow als Musical sein.
Paramour, zu Deutsch „Geliebte“, spielt in den 1920er-Jahren zu Zeiten der goldenen Ära Hollywoods. Es ist das erste Musical des kanadischen Zirkus „Cirque de Soleil“. Es erzählt die Geschichte eines Regisseurs, der nach jungen Talenten für einen neuen Kinofilm sucht. Er verliebt sich in seine Hauptdarstellerin. Die junge Schauspielerin aber hat ein Auge auf den Pianisten geworfen, der den Titelsong für den Film komponieren soll. In dem Musical werden insgesamt 52 Artisten, Tänzer und Sänger zu sehen sein. Die Artisten sucht der Cirque du Soleil aus.
Pretty Woman: Große Gefühle
Im September 2019 feiert erneut ein Film im Musicalgewand Premiere. Diesmal wird es die Europa-Premiere der romantischen Liebeskomödie Pretty Woman sein. Der Film aus dem Jahr 1990 genießt einen regelrechten Kultstatus – gute Vorraussetzungen also, ein Musical daraus zu machen. Seit August ist das Stück am New Yorker Broadway zu sehen, Regie führt Jerry Mitchell (Kinky Boots), die Musik stammt vom kanadischen Sänger Bryan Adams und Jim Vallance.
Pretty Woman erzählt die Geschichte einer Prostituierten und eines Geschäftsmannes, die sich ineinander verlieben. Bei Stage klingt das so: „Vivian und Edward kommen aus zwei grundverschiedenen Welten, treffen aufeinander – und verlieben sich wider Willen. Vielen Hindernissen zum Trotz spüren sie ihre Seelenverwandtschaft und finden nicht nur die große Liebe, sondern auch sich selbst. Erleben und fühlen Sie hautnah all die Momente, die Sie aus dem Film kennen und lieben – und lernen Sie das längst Kult gewordene Liebespaar auf eine ganz neue Art kennen.“ Dazu gibt es 18 neu geschriebene, recht gefällige Popsongs.
Musicals 2019: Wenig originell
Halten wir fest: Wir haben die Bühnenadaption eines Filmes, eine Compilation Show, noch ein Popsical, eine Zirkusshow und, zu guter Letzt, wieder einen Film, der für die Bühne adaptiert wurde. Das ist ehrlich gesagt so wenig originell wie es sich liest (Paramour mal ausgenommen). Natürlich ist es sehr positiv, dass Stage Entertainment frischen Wind auf die Großbühnen bringt und uns einige Deutschland- und Europapremieren präsentiert. Ich frage mich nur: Müssen es immer Compilation Shows sein, weil man den Leuten bekannte Popsongs servieren muss? Müssen immer irgendwelche erfolgreichen Filme adaptiert werden, weil ihre Namen Erfolg garantieren?
Ich will diesen Shows gar nicht absprechen, dass sie einen hohen Schau- und Unterhaltungswert haben. Und ich will den Songs von Take That oder Tina Turner nicht absprechen, dass sie auch eingebettet in einer Geschichte funktionieren können. Aber ganz ehrlich: Wenn ich Pretty Woman sehen wollte, würde ich die dreihundertste Wiederholung im Fernsehen anschalten. Und wenn mir jemals der Sinn nach Take That stehen sollte, gehe ich auf Spotify. Wo sind die wirklich neuen, vielleicht auch mal mutigen Ideen? Wo sind die Stücke, in denen Handlung und Musik noch eine Einheit sind, weil man eben nicht um bekannte Ohrwürmer eine austauschbare Story gebastelt hat? Musical ist viel mehr als das, was uns da in den letzten Jahren geboten wird.
Mein Musicalwunschzettel 2019
I wish… Es muss ja nicht immer etwas ganz Neues sein. Es gibt so viele tolle Stücke, die es verdient hätten, auch mal als Großproduktion gespielt zu werden. Ich habe mal meinen persönlichen Musicalwunschzettel zusammengestellt. Schließlich darf man ja träumen, oder?
Sweeney Todd: Blutig und böse
Stephen Sondheim hat es schwer in Deutschland, zumindest in Sachen Großproduktionen. Das ist schade, denn der Amerikaner gehört zu den anspruchvollsten Musicalkomponisten überhaupt. Entgegen dem gängigen Trend zu gefälligen, am besten schon aus den Charts bekannten Nummern und ausgedehnten Dialogen, verzichten seine Musicals auf eingängige, leicht fassbare Melodien. Sein Stil zeichnet sich durch komplexe musikalische Strukturen und komplizierte Harmonien aus. Auch die Handlung seiner Stücke ist oft schwere Kost, beweist aber, dass Musicals nicht nur die leicht-seichte Comedysparte bedienen, in die sie gerne gesteckt werden. Sondheim zeigt: Musical kann anspruchsvoll, dramatisch, düster und auch böse sein.
2012 hatte ich das Glück, Sweeney Todd im Adelphi Theatre in London erleben zu dürfen, mit Michael Ball und Imelda Staunton in den Hauptrollen. Das Stück wurde aus seinem typisch viktorianischen Setting gelöst und ins London zur Zeit der Industrialisierung verfrachtet. Abgesehen davon, dass das Musical schon vorher zu meinen Lieblingsstücken zählte, gehört diese Inszenierung zu den mit Abstand besten und intensivsten Musicalmomenten, die ich je erlebt habe. Es gibt wenige Aufführungen, die mich so begeistert haben und wenige Stücke, bei denen auch das Publikum so begeistert war. Sweeney Todd ist ein großartiges Stück, das inszenierungstechnisch großartige Möglichkeiten bietet. Glücklicherweise haben das inzwischen auch viele Stadttheater erkannt.
Liebe stirbt nie: Zu Unrecht gefloppt
Die Fortsetzung von Webbers Musicalhit Das Phantom der Oper wurde verrissen, in London ebenso wie in Hamburg. In London war daran maßgeblich die eher dürftige Inszenierung Schuld. Die Hamburger Fassung entsprach der australischen Produktion und war optisch ein Glanzstück. Über die Handlung kann man natürlich diskutieren (Achtung Spoiler!): Raoul wird zum Säufer, Christine muss sterben. Das ist zugegeben schon ein wenig vorhersehbar. Grundsätzlich ist das Phantom aber ein Musical, zu dem eine Fortsetzung passt, denn ein wirkliches Ende hatte die Show für mich nie. Und dass Christine sich letztlich für Raoul entschieden hat, habe nicht nur ich nie verstanden.
Davon abgesehen ist Liebe stirbt nie ein Musical, dass in Sachen Musik und Ausstattung an die aufregenden, opulenten Produktionen der 80er und 90er Jahre erinnert, als Stücke noch dramatisch, tiefgründig und traurig sein durften. Die Zeiten, in denen Produktionen auf lange Laufzeiten ausgelegt waren, sind längst vorbei, entsprechend schnelllebig ist das Geschäft geworden. Darunter leidet die Qualität. Neben bewährten Disneymusicals kommen immer mehr Jukebox-Shows und Filme auf die Bühne, bei denen der Zuschauer schon vorher weiß, worauf er sich einlässt. Musicals sind austauschbarer, vorhersehbarer und vor allem weniger tiefgründig geworden.
Vielleicht entspricht das unserem Zeitgeist, vielleicht wollen Menschen nur die seichte Unterhaltung. Doch als Konzern wie Stage Entertainment, der für nahezu alle Großproduktionen in Deutschland verantwortlich ist, hat man Einfluss auf die Sehgewohnheiten. Und wenn Musical Leidenschaft ist, hat man auch eine gewisse „Verpflichtung“ dem Publikum zu zeigen, wie vielschichtig diese Form des Unterhaltungstheaters ist. Angesichts der Kommerzialisierung des Genres ein naiver Anspruch. Dennoch hoffe ich, dass Liebe stirbt nie eine zweite Chance bekommt.
Dracula: Vampire können mehr als tanzen
Das Musical nach dem gleichnamigen Roman von Bram Stoker des Jekyll&Hyde-Komponisten Frank Wildhorn wurde 2001 in Kalifornien uraufgeführt, ehe es 2004 seinen Weg an den Broadway fand. Dort fristete es allerdings ein weitgehend unbeachtetes Dasein. Anfang 2005 hat man die Show bereits wieder abgesetzt. Auch in Deutschland ist das Stück eher unbekannt, kommt aber immer mal wieder auf kleineren Bühnen zur Aufführung. Und es gibt eine fantastische Cast-CD der Inszenierung des 1. Grazer Musicalfestivals 2007 mit ebenso fantastischer Besetzung. Thomas Borchert, Uwe Kröger und Lyn Liechty sind nur einige hochkarätige Namen dieses großartigens Casts. Auch wegen seiner schönen Balladen ist Dracula eine echte Alternative zum immer wiederkehrenden Vampirtanz.
The Scarlett Pimpernel: Großes Drama
Und noch ein Frank Wildhorn-Musical, das ich mir sehnlichst auf einer großen Bühne wünschen: The Scarlet Pimpernel. Das Musical spielt zur Zeit der französischen Revolution und handelt von Liebe, Vertrauen und Verrat. Seine Uraufführung fand 1997 in New York statt, die deutsche Erstaufführung folgte 2003 am Operettenhaus Halle. Seit 2008 wird das Musical auch von der japanischen Takarazuka Revue aufgeführt und ist ähnlich erfolgreich wie die Takarazuka-Interpretation von Elisabeth.
Auch The Scarlet Pimpernel hat es in Deutschland nicht über ein Stadttheater hinaus geschafft – was grundsätzlich nicht schlimm ist. Stadttheateraufführungen sind oft von hoher Qualität und überzeugen mit viel Liebe zum Detail. Außerdem sind ihre Spielpläne abwechslungsreicher und mutiger (die gefühlt hundert West Side Story-Aufführungen jedes Jahr mal ausgeklammert). Auch die Kartenpreise sind wesentlich erschwinglicher. The Scarlet Pimpernel würde aber auf einer großen Bühne funktionieren – die Opulenz vergangener Zeiten lässt grüßen. Ob es auch verkaufstechnisch ein Erfolg werden würde, ist fraglich. Vielleicht passt so ein Stück einfach nicht in die heutige Zeit.
Musicals 2019: Noch viele Wünsche offen
Es gibt noch viele weitere Musicals, die ich gerne wieder sehen würde, angefangen von Les Misérables über Das Phantom der Oper und Elisabeth (aber bitte nicht in dieser lieblosen Tourneeproduktion!) bis zu Jekyll&Hyde. Unabhängig davon wünsche ich mir aber, dass die deutsche Musicallandschaft endlich wieder abwechslungsreicher wird. Popsicals? Meinetwegen, aber nicht fünf davon. Filmadaptionen? Ok, aber bitte nicht ausschließlich. Es fehlt die Ausgewogenheit, das Tiefgründige, Dramatische. Denn das ist Musical eben auch.