Miss Saigon Koeln Programmheft
Musical

Miss Saigon in Köln: Ein Meisterwerk

27. Januar 2019

Ein Vierteljahrhundert nach seiner deutschen Erstaufführung ist Miss Saigon endlich zurück. Die englischsprachige Tourneeproduktion, die noch bis März im Musical Dome Köln zu sehen ist, ist Musicaltheater auf höchstem Niveau und zeigt, wie weit die deutsche Musicallandschaft derzeit unter den Möglichkeiten des Genres liegt.

Es gab eine Zeit, in die sich echte Musicalliebhaber*innen zurücksehen. Eine Zeit, in eine opulente Ausstattung und technische Finessen die Zuschauer und Zuschauerinnen in Staunen versetzt haben. Eine Zeit, in der die Geschichten, die erzählt wurden, keine Angst davor hatten, traurig, dramatisch, auch mal politisch, anspruchsvoll zu sein. Eine Zeit, in denen die Figuren echte Charaktere mit Raum zur Entwicklung und nicht bloß stereotype Abziehbilder waren. Eine Zeit, in denen durchgängig komponierte Stücke ein musikalisch rundes Werk waren. Das war die Zeit der goldenen 80er und 90er Jahre, die Musicals wie Les Misérables, Das Phantom der Oper oder Elisabeth hervorgebracht haben. Und Musicals wie Miss Saigon.

Miss Saigon in Köln: Eine Liebe in den Wirren des Krieges

Es ist lange her, dass Miss Saigon auf einer deutschen Bühne zu sehen war. Die Uraufführung fand 1989 in London statt, 1991 folgte die Broadway-Premiere. 1994 erlebte das Stück seine deutschsprachige Erstaufführung in der Musical Hall Stuttgart, dem heutigen Apollo Theater. Der letzte Vorhang fiel im Dezember 1999. Uwe Kröger war damals in der Premierenbesetzung des Chris zu sehen, Jerzy Jeszke als Chef im Ring. Nach Stationen in St. Gallen, Klagenfurt und Utrecht kehrte das Musical im Mai 2014 anlässlich seines 25. Geburtstages als Revival-Produktion nach London zurück. Diese Neuproduktion ist es, die nun auch in Köln zu sehen ist – glücklicherweise in Englisch, denn die deutsche Übersetzung von Heinz Rudolph Kunze tut auch nach über zwanzig Jahren noch in den Ohren weh.

Das Stück aus der Feder des Les-Misérables-Duos Alain Boubil und Claude Michel Schönberg spielt im Jahr 1975 in den letzten Wochen des Vietnamkrieges und erzählt die Geschichte der jungen Kim. Die Armut führt sie in den Nachtclub „Dreamland“, wo John, ein amerikanischer GI sie als Prostituierte für seinen Kumpel Chris kauft. Beide fühlen sich zueinander hingezogen und verlieben sich ineinander. Doch die Hoffnung auf ein gemeinsames Leben verliert sich in den Wirren des Krieges. Während Chris nach Amerika zurückkehrt und heiratet, bleibt Kim in Vietnam zurück. Der Glaube auf eine Rückkehr von Chris lässt Kim ihr elendiges Leben ertragen. Doch es ist die Liebe zu ihrem gemeinsamen Sohn Tam, die in ihr den eisernen Willen weckt, aus Vietnam zu fliehen. Dafür ist sie zu allem entschlossen.



Inspiriert von einem Foto

Die Geschichte ähnelt der der Madame Butterfly von Puccini. Inspiriert ist sie vom Foto eines elfjährigen Mädchens am Flughafen von Saigon im Jahr 1975, das verzweifelt weint. Seine Mutter schickt es in die USA zu seinem Vater, einem ehemaligen GI. Bei ihm soll das Kind ein besseres Leben haben. Der Vietnamkrieg liegt inzwischen zwar lange zurück, doch Kriegsgeschichten hat auch unsere Zeit noch genug zu erzählen. Die vom Krieg gezeichneten Schicksale sind aktueller denn je. Miss Saigon  erzählt die Geschichte einer Liebe, die von Beginn an keine Chance hat, die nicht mehr ist als jene aussichtlose Hoffnung, die so viele andere Opfer des Krieges hegen, ehe sie untergehen. Es ist aber auch die Geschichte einer Liebe, die stärker ist als alle Widrigkeiten, eine bedingungslose, aufopferungsvolle Liebe, die eine Mutter zum Äußersten treibt, um ihr Kind zu retten.

All das ist nicht nur dicht und packend erzählt, sondern verlangt dem Zuschauer emotional einiges ab. Miss Saigon in Köln ist kein Spaziergang, kein typisches Feel-good-Musical. Miss Saigon ist Musical Drama in Perfektion. Bereits der erste Ton des Stückes hallt unheilschwer im Theater wieder, Gänsehaut kriecht den Rücken empor und augenblicklich ist man gefangen, eingesogen in diese Geschichte, der man sich als Zuschauer ebenso wenig entziehen kann wie die Figuren dem Krieg. Die Story rührt an, stimmt nachdenklich – und tut damit etwas, was man in heutigen Stücken oft vermisst.

Komplexe Figuren

Miss Saigon Programmheft
Foto: Weber

So wie es vielen Stücken an einer komplexen Handlung fehlt, fehlt es ihnen auch an komplexen Charakteren. Miss Saigon steht seinen Figuren zu, jenseits von schwarz und weiß zu agieren. Da ist die erst 17-jährige Kim, die, für ihr Überleben gezwungen sich zu prostituieren, sich gleich in ihrer ersten Nacht in den ersten Mann verliebt, der jemals gut zu ihr war. Doch Kim ist nicht das kleine, unschuldige Naivchen, das sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Kim ist auch auf der Flucht vor Thuy, dem Mann, den sie eigentlich heiraten soll. Sie widersetzt sich dem Willen ihrer inzwischen verstorbenen Eltern und hält auch nach Jahren noch an ihrer Liebe zu Chris fest. Vor allem aber ist es die Liebe zu ihrem Kind, die sie zur Löwin werden lässt.

Chris erscheint zu Beginn wie der Held des Stückes, der blonde Kämpfer, der die verlorene Kim aus ihrem Elend erlöst. Doch er verlässt Vietnam ohne sie, heiratet neu und versucht so, den Schreckens des Krieges, die ihn auch Jahre später noch heimsuchen, zu entkommen. Als Kim in Amerika auftaucht, ist Chris nicht bereit, seine Frau Ellen zu verlassen. Sein Leben ist weitergegangen, während Kim in noch tieferes Elend gestürzt ist.

Der Engineer tritt als skrupelloser Zuhälter auf, tatsächlich aber ist auch er nur ein Opfer des Krieges mit dem „Movie in my mind“. Nicht anders als seine Huren sehnt auch er sich nach einem besseren Leben in Amerika. Er versteht es am besten von allen, die Windungen des Schicksals stets zu seinem Vorteil zu nutzen. Ideale wie die Liebende Kim kennt er nicht. Aber genau wie Kim ist er getrieben von seinem „American Dream“.

Miss Saigon in Köln: Herausragende Darsteller

Derart komplexe Charaktere verlangen erstklassige Darsteller. Und die hat Miss Saiogin in Köln bis zum letzten Ensemblemitglied zu bieten. Sooha Kim berührt mit ihrer wunderschönen Stimme vom ersten Moment an und durchläuft eine überzeugende Wandlung vom unschuldigen Mädchen zur Löwenmutter. Die Rolle der Kim, traditionsgemäß meist mit sehr jungen Darstellerinnen besetzt, trägt die gesamte Show auf ihren Schulter – Kim meistert diesen anspruchsvollen Part mit beeindruckender Leichtigkeit.

Miss Saigon Finale 1. Akt
Foto: Weber

Leo Tavarro Valdez (alternierend) gibt einen gewieften, funkelnden Engineer, der nicht erst in seiner Revuenummer „The American Dream“ sein komödiantisches Talent ausspielt. Ashley Gilmour schafft es, seinen Chris trotz Kims ergreifenden Schicksal und ihrer beispiellosen Liebe sympathisch wirken zu lassen. Es ist absolut nachvollziehbar, warum er nicht an ihr festgehalten, sondern sich, nicht anders als Kim oder der Enginieer, nach einem neuen Leben sehnt. Elana Martin und Aicelle Santos überzeugen mit großen Stimmen und anrührendem Spiel in den Rollen von Chris’ Ehefrau Ellen und der Hure Gigi, Ryan O’Gorman wandelt sich in der Rolle des John vom Inbegriff des amerikanischen Soldaten zu einem engagierten Menschenrechtler. Und auch Gerald Santos in der Rolle des verstoßenen Mannes Thuy kann Sympathien gewinnen, auch er ist nicht nur der eindimensional verschmähte, rachsüchtige Ehemann, sondern ein Getriebener des Schicksals, der zeigt, dass ihm etwas an Kim liegt.

Ein Musical mit hohem Schauwert

Auch in Sachen Ausstattung hat Miss Saigon einen hohen Schauwert. Das Bühnenbild ist detailreich ausgestattet, die Kostüme passen sich der jeweiligen Zeit und Kultur an, ohne überzeichnet zu sein. Zudem wartet das Stück mit technischen Finessen wie einer Drehbühne auf.

In vielen Stücken gibt es Szenen, in der Bühnebild und Technik zu einem besonderen optischen Highlight zusammenlaufen. Im Phantom der Oper ist es die berühmte Kronleuchterszene (sollte ich jemals ein Haus haben, möchte ich diesen Kronleuchter!!!), bei Aladdin die wundervolle „A whole new wolrd“-Sequenz mit dem fliegenden Teppich. Bei Wicked ist es ganz klar die fliegende Elphaba in „Defiying Gravity“ und bei Mary Poppins die ebenfalls fliegende Protagonistin in der Schlusssequenz. Bei Miss Saigon ist es die Hubschauberszene – für mich eine der imposantesten Szenen im Musicaltheater überhaupt. Ich kann darüber hier gar nicht viele Worte verlieren. Man muss es einfach gesehen haben!

Das gilt auch für das gesamte Stück. Miss Saigon überwältigt sein Publikum als Gesamtwerk und zeigt, was Musical ausmacht. Wer Musicals liebt, für den ist Miss Saigon in Köln ein Muss.

Zugabe:

  • Jonathan Pryce aka der Hohe Spatz aus Game of Thrones war als Engineer in der Uraufführung in London zu sehen
  • Die damals 17-jährige Lea Salonga übernahm in der Uraufführung die Rolle der Kim. Später synchronisierte sie auch Jasmine in Aladdin und Mulan.
  • Das Werbeplakat Stuttgarter Inszenierung inspirierte den Grafiker Reiner Müller bei der Gestaltung des Covers für das Brettspiel „Die Siedler von Catan“.
  • Miss Saigon in Köln ist eine Tourneeproduktion, die der DVD-Inszenzierung von 2016 entspricht.