Das Wort „Märchen“ weckt jede Menge Erinnerungen. Aschenputtel, Schneewittchen und Dornröschen haben viele von uns durch die Kindheit begleitet. Und auch heute noch geht von Märchen ein ganz besonderer Zauber aus, vor allem in der Weihnachtszeit. Warum das so ist und weshalb Märchen nicht nur etwas für Kinder sind, lest ihr hier.
Märchen: Weil es immer gut ausgeht
Einmal eine schöne Prinzessin sein, ein ganzes Königreich retten oder mit Tieren sprechen – jede*r, der oder die Märchen aus seiner oder ihrer Kindheit kennt, verbindet damit wohl ganz bestimmte Erinnerungen und Wünsche. Denn Märchen sind jene Erzählungen aus unserer Kindheit, die uns gelehrt haben, dass ganz wundersame Dinge geschehen können. Dass das Böse bestraft wird und alles gut ausgeht.
Märchen beinhalten aber noch sehr viel mehr als diese simple Gut-siegt-über-Böse-Struktur. Tatsächlich sind sie äußerst vielfältig und komplex. Und genau aus diesem Grund sind sie nicht nur etwas für Kinder, sondern bieten Anknüpfungspunkte für jedes Alter. Welche das sind und was Märchen so zeit- und alterslos macht, erfahrt ihr hier.
Was Märchen eigentlich sind
Märchen sind eine Textgattung der Prosa und nehmen durch ihre ebenso spezifischen wie einzigartigen Merkmale eine besondere Rolle in der Literatur ein. Ihre Bezeichnung leitet sich von dem mittelhochdeutschen Begriff „Märe“ ab, was „Kunde“, „Nachricht“ oder „Bericht“ bedeutet. Diese Bezeichnungen passen zu ihrer ursprünglichen Überlieferungsform, denn Märchen wurden mündlich weitergegeben. Erst die Gebrüder Grimm begannen, diese mündlich tradierten Erzählungen zu sammeln und aufzuschreiben. Auch deswegen ist der Märchenbegriff im deutschsprachigen Raum eng mit den Grimms verknüpft.
Mit Motiven wie Neid, Mittellosigkeit und der Bestrafung dessen, was unrecht ist, entstammen die Erzählungen der Lebenswirklichkeit einer unter der Ausbeutung des Adels leidenden bäuerlichen Schicht. In ihnen spiegelt sich ihr Wunsch nach einem besseren Leben wider. Als sie zur Zeit der Romantik niedergeschrieben wurden, entsprachen sie zwar nicht mehr dem Alltag der bürgerlichen Kleinfamilien. Dennoch blieben zahlreiche Motive erhalten.
Merkmale von Märchen
Die Merkmale von Märchen sind sehr eindeutig und machen eine Identifizierung dieser Textform leicht. So sind neben wiederkehrenden Motiven wie der bösen Stiefmutter oder der schönen Prinzessin fantastische Elemente typisch. Diese treten etwa in Form von sprechenden Tieren oder Zauberei auf. Darüber hinaus können Märchen in Haus- oder Volksmärchen und Kunstmärchen unterschieden werden.
Volksmärchen
Volksmärchen sind das, was durch die Brüder Grimm bekannt wurde: die traditionelle Form des Märchens, die auf den mündlichen Überlieferungen basiert. Unterschieden wird dabei nochmals in Tiermärchen und schwankhafte Märchen. Während letztere einen komischen Inhalt haben, spielen in Tiermärchen Tiere eine Hauptrolle, wie ihr es etwa aus „Der Wolf und die sieben Geißlein“ oder „Der Wolf und der Fuchs“ kennt. Der dritte Typus des Volksmärchens ist das „eigentliche“ Märchen. Es ist legenden- und novellenartig, kann aber auch ein Zaubermärchen sein oder von dummen Riesen und Teufeln handeln.
Typisch für die Volksmärchen ist ferner ihre charakteristische Struktur: Volksmärchen sind leicht verständlich und spielen in einer erfundenen Welt. Es gibt weder Ort- noch Zeitangaben und Gut und Böse stehen sich als Gegensätze gegenüber. Nach dem die meist zunächst schwache Hauptfigur verschiedenen Prüfungen bestanden hat, folgt das Happy End. Pflanzen und Tiere sind personifiziert, die Figuren selbst werden jedoch nur über ihre Eigenschaften charakterisiert. Über ihr Innenleben erfahren wir meist nichts. Darüber hinaus ist die Zahlensymbolik ein weiteres spezifisches Merkmal von Märchen: Es gibt drei Prüfungen, sieben Zwerge, sieben Geißlein und so weiter. Und, nicht zu vergessen: Ihr könnt Volksmärchen natürlich an ihrer wiederkehrenden Beginn- und Schlussformel erkennen: „Es war einmal“ und „Wenn sie nicht gestorben sind.“
Kunstmärchen
Kunstmärchen haben anders als die Volksmärchen keinen mündlichen Ursprung, sondern wurden direkt aufgeschrieben. Somit haben sie immer einen festen Autor oder eine feste Autorin und sind in ihrer Erzählweise ausführlicher. So benutzen sie keine Stereotypen in Ort, Zeit oder Figurenzeichnung. Vielmehr legen sie Wert auf eine detaillierte Personenbeschreibung sowie deren psychologische Wandlung. Zudem findet sich keine eindeutige Zuordnung von Gut und Böse. Stattdessen werden auch moralische Grauzonen thematisiert. Das bedeutet in der Folge: Es gibt nicht automatisch ein Happy End.
Die Bedeutung von Märchen heute
Neben ihren in der Literatur einzigartigen Merkmalen sind Märchen aber auch noch aus einem anderen Grund besonders: Sie sind sehr alt. So alt, dass sie in der Menschheitsgeschichte weiter als jede andere literarische Form zurückreichen. Die Wurzeln einiger Erzählungen reichen ganze 6.000 Jahre zurück. Und heute erzählen wir sie immer noch. Das liegt sicher nicht nur daran, dass es nette Geschichten sind. Vielmehr beinhalten sie nach wie vor Elemente, die auch in unserer Welt noch von Bedeutung sind.
Natürlich entsprechen Märchen nicht mehr unserer Lebenswirklichkeit. Und doch enthalten sie zahlreiche Aspekte, die auch in unserer Zeit noch relevant sind. Zum einen ist da nach wie vor der Gedanke daran, dass alles gut ausgehen kann. Das Böse bekommt seine Strafe und wir fühlen uns beim Lesen und Erzählen in unserem Gerechtigkeitssinn bestätigt. Auch die eskapistische Dimension von Märchen ist noch immer gegeben. Wir wissen, dass das, was in Märchen passiert, niemals Realität werden kann. Aber sich in eine Welt zu träumen, in der das möglich ist, in der wir Prinzessin oder König sein können und in der wir wundersame Dinge erleben, ist in einer so schnelllebigen und modernisierten Zeit wie der unseren wohl nicht weniger reizvoll als für die schwer schuftenden Bauern im späten Mittelalter. Auch die vermeintliche Einfachheit von Märchen ist ein entspannender Gegenpol zu unserem immer komplexer werdenden Alltag. Durch Märchen können wir träumen, wieder Kind sein und uns etwas Magie bewahren.
Märchen in der Weihnachtszeit
Ihren ganzen Zauber entfalten Märchen in der Weihnachtszeit. Denn Märchen und Weihnachten einen Werte wie Hilfsbereitschaft, Liebe, Anteilnahme und der Glaube daran, dass alles gut werden kann. Abgesehen von seinem religiösen Hintergrund und ganz losgelöst von der Frage, ob man selber nun religiös ist oder nicht, ist Weihnachten zudem das letzte Märchen, dass wir noch aktiv begehen und feiern und dessen Zauber wir in unseren Alltag und in unser Herz lassen. Und genau dort sollten Märchen auch sein: Tief in unseren Herzen. Die Tatsache, dass wir sie noch immer erzählen und für viele von uns Filme wie „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ ganz selbstverständlich zur weihnachtlichen Routine gehören, zeigt, dass sie auch genau dort sind.
Märchenpottcast: Was Märchen uns noch erzählen
Falls ihr jetzt Lust auf noch mehr Wissen, Hintergründe und Informationen rund um Märchen habt, folgt hier Werbung in eigener Sache: In dem Podcast „Märchenpottcast“, den ich zusammen mit zwei Freunden*innen gegründet habe, geht es genau darum: um Märchen und ihre ganze Vielfalt. Wir gehen der Frage nach, was Märchen uns zu sagen haben und begeben uns auf eine Reise in bekannte und unbekannte Märchenwelten. Wir beleuchten Klassiker in neuem Licht und stellen weniger populäre Erzählungen vor. Außerdem greifen wir uns ganz verschiedene Aspekte heraus, analysieren sie und diskutieren darüber. Das ist mal lustig, mal nostalgisch, auch mal kitschig und absurd, aber weder Kinderkram noch ein Proseminar im Literaturstudium.
Ihr findet uns aktuell auf Spotify, iTunes, Amazon Music und Google Podcasts. Neue Folgen gibt es alle zwei Wochen sonntags um zwölf Uhr. Und für alle, die auch gerne Märchen hören: Es wird nicht immer nur geredet, sondern auch erzählt. Wir freuen uns, wenn ihr reinhört und uns auf unserer märchenhaften Reise begleitet.